Montag 16. Juli 1990:
PYRGOS – KORINTH


Nach dem Erwachen kehrt langsam meine Erinnerung an den eigenartigen gestrigen Abend zurück und ich bin erleichtert, dass jetzt helles Sonnenlicht ins Zimmer flutet. Schnell sind meine Sachen gepackt, an der Rezeption bezahlt und durch die im Hellen noch leerer wirkende Hotelhalle verlasse ich diese seltsame Unterkunft.

Draußen vor der Tür erwartet mich eine Überraschung. Was hier in Pyrgos gestern Abend noch verlassen und ausgestorben schien, hat sich nun in das genaue Gegenteil gekehrt. Laden reiht sich an Laden, Auto an Auto und zwischen allem wimmelt eine Unzahl von Menschen herum, die geschäftig in die eine oder andere Richtung hasten.

Trotzdem ist alles ganz anders, als ich es bisher in griechischen Städten erlebt hatte. Nur die Kleidung der Menschen verrät, dass hier noch Europa ist. Alles andere jedoch, ist für mich wie der reinste Orient. Straßen mit kleinen offenen Läden die vor Gemüse überquellen, Metzgereien vor denen Reihen geschlachteter nackter Hammel komplett mit ihren Köpfen hängen und über allem ein waberndes, quirliges Hin und Her. Würde man nur die griechischen Schilder durch arabische ersetzen, wäre ich überzeugt davon aus Versehen irgendwo in Algerien oder Marokko gelandet zu sein.

Nach kurzem Frühstück in einer kleinen Pizzabäckerei fahre ich weiter nach Süden. Zuerst ist die Landschaft flach, doch bald nähern sich von links die in Griechenland fast allgegenwärtigen Berge. Zügig trägt mich die gut ausgebaute, von blühenden Oleanderbüschen gesäumte Straße, bis in die Hafenstadt Kalamata.

Da ich ab hier ein bestimmtes Ziel vor Augen habe, durchquere ich den Ort, über dem die alles lähmende Mittagshitze liegt, ohne anzuhalten und folge der Küstenstraße am Taygetos Gebirge entlang weiter nach Süden. In vielen Serpentinen schraubt sich die Straße ein kurzes Stück in die Berge hinein, um bald darauf wieder abwärts dem Meer zuzustreben. Noch eine Kurve, und dann öffnet sich vor mir ein vertrauter Anblick: Ein kleines Inselchen vor der Küste und ein Dorf, das ich im Leben nie vergessen werde – Kardamili.

 
   
Im kleinen Kardamili, das ich von einer früheren Reise kenne, hat sich fast nichts verändert.

Auf meiner allerersten Griechenlandreise, vor zwölf Jahren, erlebte ich hier einen seltsamen Zufall. Schon Tage vor meinem damaligen Reiseantritt plagte mich das Schlechte Gewissen. Bei einer guten Freundin aus der früheren WG war seit langem schon ein Anruf fällig um mich mal wieder mit ihr zu treffen. Mit diesem Schlechten Gewissen und dem guten Vorsatz, den längst überfälligen Anruf gleich nach meiner Rückkehr nachzuholen, war ich damals nach Griechenland aufgebrochen.

Und hier, im kleinen Kardamili, geschah das Unglaubliche: Ich planschte gerade entspannt im Meer herum, als ich am Ufer eine Frau bemerkte, die dieser Freundin merkwürdig ähnlich sah und langsam auf mich zu kam. „Hallo Barbara, ich wollte dich schon lange mal anrufen”, sagte ich entschuldigend, als sie mich starr vor Überraschung vom Ufer aus anschaute.

Dieses Erlebnis liegt zwölf Jahre zurück und je näher ich jetzt Kardamili komme, desto gespanter bin ich, ob sich viel verändert hat. Von weitem sieht es so aus, als sei aus dem alten Dorf noch keine kleine Stadt geworden. Beim Erreichen der ersten Häuser habe ich Gewissheit. Es gibt ein paar Läden mehr, aber ansonsten ist alles fast beim Alten geblieben. Selbst die Frau, die mir einst Herberge bot, steht noch immer am Straßenrand und wartet auf den nächsten Bus, aus dem sie wieder Touristen abschleppen kann – wie damals mich.

Diesmal werde ich hier nicht übernachten. Ich will es nicht riskieren zu entdecken, dass das Kardamili aus meinem Kopf doch längst untergegangen ist. Bei jedem Ober der mich bedient überlege ich, ob ich ihn nicht schon damals sah, als er noch ein Kind war. Eine Stunde lang verschmelzen so Erinnerung und Wirklichkeit. Dann steige ich wieder ins Auto und fahre weiter.

Der Wunsch, das alte Kardamili wiederzusehen, war der Hauptgrund, dass meine Route bis jetzt nach Süden führte. Nach den Strapazen des ständigen Fahrens und der täglich neuen Sorge: „Wo wirst du heute Abend schlafen?” sehne ich mich langsam wieder „nach Hause”, an meinen Ausgangspunkt zurück. Vieles habe ich bis jetzt gesehen und manches hat mir gut gefallen, aber meine Entscheidung ist klar. Ich habe keinen Ort gefunden, den ich gegen das Dorf im Norden, in das mich glückliche Lebensumstände seit vielen Jahren immer wieder geführt haben, eintauschen würde. Nichts, mit Ausnahme von Zakynthos vielleicht, der Insel mit den zwei Gesichtern.

 
   
Argos gilt als älteste Stadt Europas. Sie wurde vor 5000 Jahren gegründet.

Ich fahre wieder nach Norden. Die Orte fliegen vorüber. Zuerst Kalamata, dann Tripolis. Von hier biege ich nach Osten ab, in Richtung Korinth. Über Argos führt die Route am sagenhaften Mykene vorbei und ich will nicht versäumen, mir diesen Platz, der einer ganzen Kultur ihren Namen gab, anzusehen.

Den glanzvollen Namen trägt heute ein winziges Dorf. Oberhalb davon sind die Reste der Burg, von der König Agamemnon einst regierte. Im weiten Bogen führt die Straße an einem Hügel voller Steine vorbei. Von weitem schon ist das berühmte Löwentor zu erkennen, der Eingang zu Agamemnons Palast. Über eine sanft bergauf führende Treppe nähere ich mich diesem eindrucksvollen Bauwerk wie ein Besucher vor dreitausend Jahren. Wer schuf einst wohl solche Arbeit? Jeder Muskel der beiden in Stein gehauenen Löwen wirkt so lebendig, als würden sie jeden Moment vom Eingangstor herunterspringen. Eingefasst von zyklopischen Mauern blicken die kopflosen Wächter seit Jahrtausenden den Besuchern entgegen.

 
   
Das berühmte Löwentor war schon im Altertum der Eingang zu König Agamemnons Palast.

Das war aber auch schon der Höhepunkt. Mykene, das sind ansonsten nur noch ein paar aufrechtstehende Steinplatten im Rund der alten Königsgräber und flache Mauerreste. Vom einstigen Stolz der mächtigen Königsburg ist nichts geblieben. Das Mykene in meinem Kopf ist viel glanzvoller.

„Sehen – und gehen”, denke ich, doch kaum bin ich wieder im Auto, da finde ich doch noch den Glanz alter Zeiten. Ein kleiner Seitenweg zieht mich magisch an und führt mich zum „Schatzhaus des Atreus”. Hier ist vergangene Größe noch spürbar. Das schmale Tor scheint unendlich hoch. Es erinnert mich an den Eingang ägyptischer Tempel. Die große Kuppel, die ich betrete, umgibt mich, trotz vieler Besucher, mit tiefem inneren Frieden. Aus Neugier wird Andacht. Wussten die alten Mykener wie aus Mauern Gefühle werden? Ich spüre den Hauch der Ewigkeit, in die derjenige reiste, dessen Grab dies ist.

 
   
Im Grab des Atreus spüre ich noch den Glanz Mykenischer Zeiten.

Es ist schon später Nachmittag und ich halte es für ratsam im nahen Korinth die Nacht zu verbringen. Nachdem ich in der Nähe des Hafens ein Zimmer gefunden habe, bin ich erstaunt. Die Stadt ist kleiner als ich dachte und nur wenig Menschen sind auf den Straßen. Vielleicht liegt es an der brütenden Hitze, die hier unten am Meer jede Aktivität erlahmen lässt. Doch auch im Hafen liegen nur wenige Schiffe und selbst nach Sonnenuntergang finde ich nirgendwo das bunte Treiben einer Hafenstadt am Mittelmeer.

Aber was ist das? Ist Korinth doch lebendiger, als ich dachte? Nach und nach sammelt sich am Kai eine immer größer werdende Menschenmenge. Beim Näherkommen sehe ich den Grund. Eine große Motoryacht aus Arabien tastet sich in langsamer Fahrt in den Hafen hinein. Schwimmender Luxus aus einer anderen Welt. In den reichen spanischen Häfen liegen sie unbeachtet zu Dutzenden. Hier, im armen Korinth, ist schon eine davon ein Ereignis



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