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Dienstag 10. Juli 1990

 

„Mein Gott, schon halb zehn!” Mein morgendlich verschlafener Blick zur Uhr versetzt mich in ungewohnte Hektik. Nach der nur mit viel Wohlwollen als lauwarm zu bezeichnenden Dusche sehe ich schon klarer und stelle fest: Es war erst halb neun. Ein angenehmer Irrtum, der die Erlebnisse, die heute auf mich warten, um eine Stunde verlängert.

Der erste Weg führt mich wieder zur Hafenpromenade. Träge, fast menschenleer liegt sie in der Morgensonne. Nichts erinnert mehr an das überquellende Leben des gestrigen Abends. Hier und da werden Lokale hergerichtet. Mit Schwällen aus Putzeimern waschen sich Cafés die Morgenmüdigkeit aus den weit geöffneten Türen. Nur im alten Kafenion ist schon Betrieb. Hohe Wände, eine lange Vitrine voller Gebäck und einfache, hölzerne Stühle und Tische. Zwischen Fast-Food und Luxus-Restaurants gibt es noch diesen Platz für diejenigen, die früher als andere mit einem schnellen Kaffee den Tag beginnen. Mehr noch als meinen Griechischen Mokka genieße ich die Vorstellung, dabei zu sein, es ihnen gleich zu tun. Wie lange mag es wohl noch solche Treffpunkte geben?

„Wer nach Volos kommt, sollte nicht versäumen das Archäologische Museum zu besuchen.” so stand es im Reiseführer. Keine schlechte Idee für einen Dienstag Morgen, denke ich, frage, während ich meinen Kaffee zahle den Ober nach dem Weg und marschiere los.

Die Straße zieht sich länger als erwartet am Meer entlang. Es wird immer menschenleerer, und die immer häufiger an den Häuserwänden auftauchenden Graffiti signalisieren mir ein Stadtviertel, das ich bei vorherigem Wissen wohl vermieden hätte. Nun bin ich aber einmal hier, und jetzt bleibt mir nichts Anderes übrig, als unbeirrt weiter zu gehen.

Durch eine Toröffnung in einer mannshohen grauen Mauer fallt mein Blick in einen Garten, in dem einige Bruchstücke antiker Säulen ziemlich ungeordnet herumliegen. Nichts deutet auf ein Museum hin, doch die vage Hoffnung, endlich am Ziel zu sein, lässt mich alle Scheu überwinden, und ich trete näher, um mir Klarheit zu verschaffen. Erst auf den zweiten Blick ist an dem ungepflegt wirkenden Haus nebenan der verwitterte Schriftzug „Mouseion” zu erkennen.

„Oh Gott, welch' eine Bruchbude,” denke ich beim Lösen der Eintrittskarte, um kurz darauf eine große Überraschung zu erleben. Im Inneren ist nichts ungepflegt, ganz im Gegenteil. Alles ist so gut präsentiert, wie es kaum besser zu machen ist. Die Sammlung beginnt mit jungsteinzeitlichen Funden aus dem vierten Jahrtausend vor Christus. Es ist ein eigenartiges Gefühl, sechstausend Jahre alten Messern, Sicheln, Kämmen und anderen Werkzeugen gegenüberzustehen, deren Formen sich von denen unserer heutigen Gebrauchsgegenstände in nichts unterscheiden.

Noch eindrucksvoller wirken die Keramiken dieser „Steinzeitmenschen”. Sowohl Formen als auch Muster sind von elementarer künstlerischer Ausdruckskraft. Bild- und Formsignale, die unberührt von Raum und Zeit bis heute unmittelbar die Seele des Betrachters erreichen. Es ist, als hätte sich über die Jahrtausende ein Kreis geschlossen, und die Ausdrucksformen der neolithischen Künstler stehen wieder im Einklang mit denen der modernen Kunst. Auch die nachgebildeten Gräber lassen jene Zeit wieder vor mir lebendig werden. Wunderbar restauriert, schlagen sie eine Brücke über die Jahrtausende. Das Skelett in der Ecke schaut mich traurig an, und ein faustgroßes Loch in seiner Stirn lässt fast miterleben, wie die Axt es einst traf.

Die umfangreiche Sammlung bemalter Grabsteine aus der Zeit der klassischen alten Griechen beeindruckt mich dagegen nicht so sehr. Natürlich ist es feinere Handwerkskunst. Alles ist realistischer abgebildet. Aber die elementare Ausdruckskraft der Steinzeit-Stücke fehlt. Es scheint, als hätten die Künstler späterer Epochen verlernt, das Gefühl direkt anzusprechen. Nun versuchen sie auf dem Weg intellektueller Ästhetik den Betrachter über den Verstand zu erreichen.

Nach dem Verlassen des Museums ist es dank meines morgendlichen Irrtums noch so früh, dass ich beschließe, als nächstes die Altstadt zu erkunden. Vielleicht bin ich zu verwöhnt von Sevilla und Florenz, jedenfalls vermag ich trotz eines Spazierganges von einer Stunde Dauer nichts zu entdecken, was nur annähernd einer malerischen Altstadt gleicht. Vielleicht waren die Erdbeben früherer Jahre ja doch so verheerend, dass fast alle Spuren der Vergangenheit aus dem Stadtbild verschwunden sind.

Mancher Griechenlandkenner hatte mir vom Pelion vorgeschwärmt, dem Landzug, der südöstlich von Volos den Golf von der offenen Ägäis trennt. Diese Gegend soll eine der schönsten von ganz Griechenland sein. Es ist erst Mittagszeit. Das bedeutet: Zeit genug, das zu überprüfen.

Außerhalb der Stadt führt die Straße an vielen Industrieanlagen vorbei entlang der Küste nach Süden. Dann geht es hoch in eine hügelige Landschaft, in der sich steinige Brachflächen mit wenigen Olivengärten abwechseln. Die Route verläuft im stetigen Wechsel zwischen dem Anblick einfacher, schmuckloser Dörfer und schönen Aussichten auf das Blau des Pagasäischen Golfes. Nachdem das Dorf Argalasti hinter mir liegt, erreicht das graue Asphaltband in engen ausgefahrenen Serpentinenkurven bei dem kleinen Ort Horton schließlich wieder die Küste.

Das Meer ist klar und ruhig. Vorgelagerte, mit allerlei Grün bewachsene Inseln geben dem Blick einen ästhetischen Angelpunkt und beruhigen die Wasseroberfläche zu einem glatten Spiegel. Über allem liegt eine angenehm entspannte Stimmung. Es scheint, als habe dieses Land tatsächlich den Segen der Götter. Hier ist es fast so schön wie in meinem Dorf im Norden. Die Straße zwängt sich zwischen einem Band schmucker Häuser, die Gästezimmer anbieten und einem schmalen Strandstreifen aus braunem Kieselsand hindurch. Wo sind die breiten weißen Sandstrände, die in meine Vorstellung von Sonne und Meer unbedingt hineingehören? Vielleicht braucht man hier ein Boot, um abseits aller Straßen an jene Stellen zu gelangen, die den guten Ruf dieser Küste begründen. Ich habe es nicht ausprobiert.

Nach einem Essen in einer der zahlreichen Tavernen mache ich mich auf den Rückweg. Schon von weitem erkenne ich einen Mann im roten Overall, der am Straßenrand nach einer Mitfahrgelegenheit Ausschau hält. Ich biete sie ihm gerne an. Für mich eine gute Gelegenheit, wieder ein paar Worte Griechisch zu üben. Er ist Feuerwehrmann, und weil seinem Auto das Benzin ausgegangen ist, fährt er nun per Autostopp zu dem Turm, von dem er die Wälder der Umgebung bewacht. Zehn Minuten später sind wir an der Stelle angelangt und verabschieden uns. Nun wähle ich die östliche Route, die höher in das Gebirge hinaufführt. Die Straße wird von Kilometer zu Kilometer schmaler und windet sich in immer engeren Kurven bergauf.

Die sanften Hügel der Umgebung sind jäh aufragenden Felswänden gewichen. Eine phantastische Aussicht folgt der nächsten. Tief unter mir liegt das weite Blau der Ägäis mit ihren versteckten weißen Sandbuchten. Wild hinabstürzende Wasserfälle geben allem eine Urtümlichkeit, die diesem Land angemessen scheint, das der Sage nach die Heimat der Zentauren ist.

Es gibt nur wenige Stellen, an denen man zur Küste hinuntergelangt. Der kleine Ort Agion Ioannis ist eine davon. Langsam windet sich die Straße dorthin abwärts zu einem immer schmaler werdenden Saum. Unten lande ich an einem improvisierten Campingplatz, der in einem schattigen Pinienhain direkt an der Küste liegt. Vom Ort trennt ihn nur ein kleines Flussbett, das jetzt trocken daliegt und das ich mit meinem Geländewagen ohne Mühe durchquere. Was hätte ich wohl im Winter gemacht, wenn das Wasser aus den Bergen hier zum reißenden Fluss wird?

Aber auch dieser Ort ist wie alle anderen. Überall empfangen mich Tavernen, Wassersport und Fremdenzimmer. Ich schaue gar nicht mehr richtig hin und finde mich fast automatisch wieder auf einer Straße, die bergauf führt, zurück in das wilde Land der Zentauren. Hier, im nordöstlichen Teil des Pelion, sind die Berge nicht mehr so schroff wie im mittleren Teil, aber die Landschaft wird immer einsamer, die Wälder dunkler und die Straße schlechter. Von weitem sind auf einigen der bewaldeten Bergkuppen auffällige Schneisen zu erkennen. Parallel verlaufende Sessellifte verraten sie als Ski-Pisten. Etwas, das ich so weit im Süden nicht erwartet hätte, was mich aber daran erinnert, dass die Gipfel des Pelion über eintausendsechshundert Meter hochragen und dass diese Landschaft doch nicht so unberührt ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

In endlosen Kurven windet sich der Weg nun wieder langsam in Richtung Volos. An einer der vielen Stellen, wo die Straße einen scharfen Linksknick macht und der Blick sich geradeaus im Azurblau des Himmels verliert, steht eine Sitzbank einsam am Straßenrand. Meist deutet das auf eine besonders schöne Aussicht hin, und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, den Wagen vor der Kurve anzuhalten.

Als ich aussteige und nahe genug an den Rand des Abhanges herangekommen bin, stockt mir fast der Atem. Vor mir breitet sich eine der schönsten Aussichten aus, die ich seit Jahren gesehen habe. Vielleicht ist es sogar die schönste überhaupt, die ich je gesehen habe. Umgeben von einem endlos scheinenden Horizont liegt tief unter mir Volos, die Hafenstadt am Meer. Eingebettet in die sie umgebenden Hügel, empfängt sie das Kommen und Gehen imposanter Ozeanriesen, die von hier wie winzige weiße Perlen wirken. Perlen an einer unsichtbaren Kette auf dem blauen Dekolleté des Pagasäischen Golfes.

Kein Laut stört die himmlische Ruhe dieses Anblicks. Nur ab und zu dringt der helle, spitze Schrei eines Raubvogels zu mir herüber. Wo ist er? Nach ein paar Sekunden habe ich ihn entdeckt. Tief unter mir, aber immer noch hoch über dem Tal, zieht er seine Kreise. Plötzlich stößt er steil aufwärts, und in einem Spiel mit den Winden jagt er in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei, immer höher der Sonne entgegen. Meine Augen haben Mühe zu folgen, als er fast senkrecht über mir mit dem gleißenden Sonnenlicht verschmilzt und schließlich in einem jähen Sturzflug hinter dem Berg meinen Blicken entschwindet.

Tief beeindruckt schaue ich in die Richtung, in die der Vogel verschwand. Mir fällt die Sage von Ikarus ein. Auf seinem Flug gen Himmel kam er der Sonne zu nahe und stürzte ins Meer. Ja, – ich hab' Ikarus gesehen. Lange sitze ich noch da, um dieses Erlebnis auf mich wirken zu lassen, bis mich die schwächer werdende Sonne mahnt, meine Fahrt fortzusetzen. Es geht weiter bergab der Stadt entgegen.

Nach ein paar Kilometern sehe ich vor mir am Straßenrand ein älteres Pärchen stehen. Der Mann gibt mir ein Zeichen zu halten, und nachdem er die Beifahrertür einen Spalt geöffnet hat, fragt er in einwandfreiem Deutsch: „Könnten Sie vielleicht meine Frau nach Volos mitnehmen?” Ich schätze beide auf um die 60 Jahre. Der Mann ist im Anzug und die Frau trägt ein weißes, mit einem Spitzenkragen besetztes Kleid. Es scheint, als hätten sie sich für die Fahrt in die Stadt besonders fein gemacht.

Ich willige ein, die alte Dame steigt zu, und so setze ich meine Fahrt wieder in Begleitung fort. Lange sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich weiß nicht recht, wie ich mit einer älteren griechischen Dame ein Gespräch beginnen soll. Vielleicht gelingt es mir, die Stimmung zu lockern, wenn ich das Radio einschaltete. Es scheint zu wirken, denn nachdem der erste Schlager die Stille durchbricht, bricht auch sie ihr Schweigen und sagt auf Griechisch: „Deutscher sind Sie?” Ich bejahe und sie erzählt, dass sie mit ihrem Mann lange Zeit in Deutschland gewesen sei. Sie spricht immer noch Griechisch, und ich habe große Mühe, genügend zu verstehen, um Antworten zu können. Auf meine Frage, wieso sie mit mir dann nicht Deutsch spricht, sagt sie leicht verschämt: „Ach wissen Sie, ich war immer zu Hause, und beim Einkaufen habe ich nur Sätze wie: "Bitte ein Pfund Kartoffeln, oder: Bitte drei Gurken gelernt”, und dann fügt sie hinzu: „Deutsche Leute sind gute Leute, die sind anständig. Die Leute hier in Griechenland sind nicht gut, die taugen nichts.”

Einen Moment lang frage ich mich, was eine Griechin dazu bringt, so etwas über ihr eigenes Volk zu sagen. Doch mit meinem begrenzten griechischen Wortschatz will ich das Thema nicht vertiefen. Wir führen unser Gespräch ein wenig holprig noch eine Weile fort, und bald ist das Stadtzentrum erreicht. Die alte Dame bittet mich, anzuhalten, und zwei Lebenswege, die sich kurze Zeit kreuzten, gehen wieder auseinander

 

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