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Donnerstag 12. Juli 1990

 

Heute ist der Tag, an dem ich die Tempelstadt besuche. Hier wurde Apollon verehrt, der Gott der Gerechtigkeit, Harmonie und schönen Künste und der „Omphalos” markierte das Zentrum der Welt. Dieser Ort zog jahrhundertelang die größten Pilgerströme der Antike an.

Früh verlasse ich das Hotel und fahre zur Ausgrabung. Der Besucherandrang ist bereits so groß, dass ich vergeblich nach einem Parkplatz suche. Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder in das moderne Delfi zurückzufahren und den Weg zu Fuß zu gehen. Jetzt nähere ich mich dem Heiligtum genauso, wie die Pilger früherer Epochen. Kaum zehn Minuten, und ich habe den Eingang der alten Tempelstadt erreicht.

Die meisten Besucher in der Antike kamen wohl nicht, um hier den Nabel der Welt zu sehen, sondern um sich von der Pythia, dem berühmten Orakel von Delphi, Rat und Hoffnung zu holen. Zu ihren berühmtesten Weissagungen gehörte die, für den Lydischen König Krösus. Vor einem Krieg gegen Persien suchte er Pythias Rat und ihr Spruch lautete: „Wenn du den Halys überschreitest wirst du ein großes Reich zerstören.” Siegessicher überschritt Krösus mit seiner Armee den Grenzfluss zum Perserreich und wurde am Ende vernichtend geschlagen. Er zerstörte sein eigenes großes Reich – Pythia hatte Recht behalten.

 

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Andächtig überquere ich die römische Agora am Beginn der antiken Tempelstadt.

 

Nun stehe auch ich auf dieser Erde, auf der mehr als ein Jahrtausend lang Weltgeschichte geschah. Vorsichtig, ja geradezu andächtig überquere ich die römische Agora um dort, wo der eigentliche Tempelbezirk beginnt, die alte Heilige Straße zu betreten. Dabei versuche ich mich in die vielen Menschen des Altertums hineinzufühlen, die unter den Strahlen der gleichen Sonne an den damals weiß glänzenden Marmortempeln vorbeizogen.

 

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Hier, wo der eigentliche Tempelbezirk beginnt, betrete ich die alte Heilige Straße.

 

Rechts und links des Prozessionsweges blicke ich auf die Fundamente der alten Schatzhäuser. Darin lagerten die reichen Gold- und Silberschätze, die der Tempel erhielt um Apollon gnädig zu stimmen. Das Schatzhaus der Athener ist wiedererrichtet. Es vermittelt eine Ahnung von dem Glanz, dem die Menschen der Antike hier gegenüberstanden. Gleich dahinter erhebt sich auf der linken Seite der Fels der Sibylle. Hier soll schon lange vor der Errichtung Delphis ein Orakel geweissagt haben.

 

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Das Schatzhaus der Athener hat die Form eines dorischen Tempels.

 

Weiter nach oben führt der Weg zum Hauptheiligtum, dem Tempel Apollons. Außer ein paar Säulenresten ist wenig erhalten. Doch die Ausmaße des über 50 Meter langen Fundamentes lassen erahnen, wie beeindruckend dies Bauwerk einst war. Hier stand der dreibeinige Stuhl der Pythia. Von hier gingen ihre Weissagungen zu den Herrschern der Welt. Und über der Tür stand geschrieben: „Γνῶθι σεαυτόν –  Erkenne dichselbst”. So zumindest, sagt es die Überlieferung.

Für mich ist dies ein ganz besonderer Ort, auch wenn die Pilgerströme zu Touristenströmen geworden sind. Hier fühle ich mich wie ein Wanderer zwischen den Zeiten – bin moderner Tourist und andächtiger Pilger zugleich und froh hierher gekommen zu sein.

 

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Von hier blickte der große Tempel Apollons einst stolz ins Tal.

 

Die Sonne steht fast senkrecht und ich beschließe die kühlen Räume des nahen Museums aufzusuchen. Auch hier, wie schon in Volos, verrät das einfache Gebäude von außen noch nicht, welche Schätze es birgt.

Innen herrscht drangvolle Enge, nicht nur in den Vitrinen. Endlose Menschenmassen drängen sich von Saal zu Saal, doch der Besuch lohnt. Was der Boden wieder freigab wird hier präsentiert: Dreifüße wie der, auf dem die Pythia einst saß, meisterhaft gefertigte Steinplastiken und Reliefs und auch eine Nachbildung des Omphalos aus römischer Zeit. Das Original des phallischen Steins markierte im alten Delphi den Nabel der Welt. Wie schön wäre es doch, wenn die prachtvollen Fundstücke, statt im Museum, an ihrem alten Platz ständen. Dort sind sie zuhause.

Der Vormittag war anstrengend und nun ist es Zeit Pause zu machen. Eine Taverne scheint mir die angemessene Umgebung um neue Kräfte zu sammeln. Nach einer guten Stunde und drei Bier fühle ich mich ausgeruht genug, die zweite Runde der Besichtigungen zu beginnen: Ein Besuch im etwa einen Kilometer entfernten „Weihbezirk der Athena Pronaia”. Nach den vielen Eindrücken des Vormittags bin ich hier etwas enttäuscht. Es ist kaum mehr geblieben, als steinerne Fundamente. Nur die drei Säulen des Tholos drehen in meinem Kopf die Zeit ein wenig zurück.

 

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Im Weihbezirk der Athena Pronaia wurden drei der alten Säulen wieder aufgerichtet.

 

Die Wurzeln des kultischen Delphi liegen jedoch an einer Stelle, die sich genau auf halbem Weg zwischen den beiden Tempelbezirken befindet. Diesen Ort besuche ich zuletzt. Auf meiner Reise in die Vergangenheit bin ich nun an der ältesten der heiligen Stätten Delphis angelangt. Dort, wo die Straße nach Athen einen scharfen Knick macht, treffen die Phädriaden zusammen. Zwei steile Felsformationen, die eine enge Schlucht bilden, aus der ein kleines Bächlein entspringt – der Kastalische Quell. Waren es die vulkanischen Dämpfe aus den Erdspalten, die hier schon in grauer Vorzeit Schamanen und Seher in Trance versetzten?

Von der Straße aus sehe ich nur ein kleines Wasserrinnsal. Erst als ich die flachen Stufen emporsteige, die durch ein kleines Wäldchen führen, lichtet sich das dichte Grün der Bäume und ich stehe einer wilden Schlucht gegenüber. Viel älter, als die Tempel von Delphi, ist jene Kultstätte, die hier höhlenartig in den Fels gehauen ist. Rechts und links ragen steile Wände senkrecht in die Höhe, während sich die Quelle vor meinen Füßen in ein kleines Auffangbecken ergießt.

An dieser unscheinbaren Stelle ziehen die Besucherkarawanen oft achtlos vorüber und die angenehme Stille wird nur vom Plätschern des Wassers durchbrochen. Hier fühle ich den wahren Kraftort von Delphi. Was ich noch heute spüre, hatten die frühen Griechen schon längst erkannt. Diese Stelle ist etwas Besonderes. Lange vor den festen Tempelbauten in der Nachbarschaft war hier ein Heiligtum der Erdmutter Ge, das von dem Drachen Python bewacht wurde. Der Sage nach erschlug Lichtgott Apollon den Drachen und wurde so zum Herrn dieses Heiligtums.

 

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Der Kastalische Quell ist die älteste der heiligen Stätten Delphis.

 

Ich weiß nicht mehr wie lange ich dasaß und die Stille genoss, als rechts am Berghang ein Rascheln ertönt. Vorsichtig nähert sich eine kleine Ziegenherde. Meine Anwesenheit scheint sie nicht sonderlich zu stören. Bald haben sie den Quell umringt und erfrischen sich an seinem kühlen Wasser. In der Mitte der Herde stolziert majestätisch ein imposanter schwarzer Bock. Der Schwarze Bock war einst das heilige Opfertier Apollons. Heute besucht er mich, zum krönenden Abschluss meiner Reise nach Delphi

 

 

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