Freitag 13. Juli 1990
Delphi adé, doch welche Richtung soll ich jetzt nehmen? Ratlos sitze ich noch vor dem Hotel im Auto und studiere die Landkarte. Der Nordwesten Griechenlands soll sehr schön sein, doch im Osten könnte ich mir die Insel Euböa anschauen. Oder soll ich vielleicht weiter nach Süden fahren?
Die Entscheidung fällt mir schwer. Drei Richtungen stehen zur Wahl, wie die drei Füße an Pythias Stuhl. Dieser Gedanke bringt mich auf die rettende Idee. Was liegt in Delphi wohl näher, als ein Orakel zu befragen? Ich fahre zum Kastalischen Quell, der so früh am Morgen noch still und menschenleer zwischen den Bäumen liegt. Während ich ein paar Schluck seines köstlich kühlen Wassers genieße denke ich mir ein Orakel aus. Das Werfen von drei Würfeln scheint mir magisch genug, mir den weiteren Weg zu weisen.
Vorsichtig entfalte ich die Landkarte und lege sie direkt neben dem Bach ganz flach auf die Erde. Schnell sind aus Papier drei kleine Kügelchen geformt und wie drei Würfel lasse ich sie andächtig auf die Karte fallen.
Eine Kugel rollt weit weg, die andere bleibt bei Delphi liegen und die dritte landet auf Zakynthos, einer Insel im Ionischen Meer. Die erstaunlich klare Antwort meines selbstgebastelten Orakels von Delphi verblüfft mich. „Fahre von Delphi nach Zakynthos” ruft mir die Pythia zweifelsfrei zu. Ich bin überrascht, aber warum nicht nach Zakynthos? Es gibt keinen Grund der dagegen spricht – also los!
Der erste Teil der Route führt direkt am Golf von Korinth entlang. Die Landschaft zwischen Meer und Bergen ist schön, doch bei näherem Hinsehen zeigt die dunkle, matte Farbe des Wassers, dass der starke Schiffsverkehr diesen Meeresteil schon sehr verschmutzt hat.
Bald ist der kleine Ort Antirrio erreicht und von hier bringt mich die Fähre in fünf Minuten hinüber auf den Peloponnes. Jetzt sind es nur noch fünf Kilometer bis Patras, der großen Hafenstadt. Wie immer stürze ich mich auch hier mit Vergnügen in das Verkehrsgewühl des Zentrums. Am großen Platz, der die Mitte des Ortes markiert, mache ich Rast und schaue mich um. Auch wenn ich nicht lange bleibe, so möchte ich doch ein wenig von der Luft dieser dreitausend Jahre alten Stadt atmen.
War ich in Delphi ein Wanderer zwischen den Zeiten, so empfinde ich mich hier als Wanderer zwischen den Welten. Obwohl es mit der Fähre nur ein kurzer Sprung über eine schmale Wasserstraße war, bin ich in Patras in einer ganz anderen Welt gelandet. Alles ist plötzlich lebendiger und bunter. Die Gerüche, der Verkehr und auch die Menschen wirken auf mich wie eine Mischung aus Europa und Orient.
Nach einer kurzen Pause setze ich meine Fahrt nach Süden fort. Die sonst in Griechenland allgegenwärtigen Berge sind an der flachen Küste nur fern zu erahnen und früh am Nachmittag ist Kyllini erreicht. Der winzige Ort besteht nur aus wenigen Häusern, doch von hier geht die Fähre nach Zakynthos. Für viertausend Drachmen bringt sie mein Auto und mich hinüber auf die Insel. Um die Decks des großen Schiffes, mit den vielen Autos im Bauch, weht ein angenehmer Wind. Auch wenn sie nur eine Stunde dauert – ich genieße die Überfahrt wie eine richtige Seereise .
Als die Sonne ihre Mittagshitze schon längst verloren hat tauchen vor uns, aus Dunst und Meer geboren, die Umrisse von Zankynthos auf. Der Blick auf den Hafenort enttäuscht mich nicht und empfängt unser Schiff mit dem Postkartenidyll, das ich von Mittelmeerinseln erwarte.
Die Häuser in Zakynthos verraten venezianischen Einfluss und von links grüßt der schlanke Campanile einer Kirche.
Schon wieder bin ich in einer anderen Welt. Hier wirkt nichts mehr orientalisch oder typisch griechisch. Im Gegenteil. Die Häuser sehen venezianisch aus und von links grüßt der schlanke Campanile einer Kirche, die ich ganz klar in Italien vermutet hätte, anstatt auf einer griechischen Insel. Hier lese ich die Handschrift der Herrscher vergangener Epochen.
Kaum habe ich das Schiff verlassen, wird der Unterschied zum Festland noch deutlicher. Auch die breite Hauptstraße entlang des Hafens, macht eher einen italienischen, als einen griechischen Eindruck. Alles ist ruhiger, sauberer und geordneter als in dem Griechenland das ich kenne. Über der kleinen Inselhauptstadt liegt eine Harmonie, die mir in diesem Land bisher fremd war und die sich sehr angenehm anfühlt. Es scheint, dass ich auf einer glücklichen Insel gelandet bin. Ist hier das schöne Griechenland?
Soll ich gleich nach Hotels Ausschau halten oder mir lieber ein Zimmer in einem kleineren Ort suchen? Ich will nicht schon wieder ein Orakel befragen, aber diese Entscheidung auch nicht treffen, ohne mir zuerst mehr vom Inneren der Insel anzuschauen.
Zakynthos ist nicht groß und schon nach fünfzehn Kilometern bin ich in den Bergen an der Südwestküste. Das Dorf Keri hat nur wenige Häuser und ist genau wie der Ort, an dem ich meine Reise begann, ein Dorf „am Ende der Welt”. Es scheint, als ob sich nur wenige Reisende hierher verirren. Der kleine Platz inmitten alter leicht verfallener Häuser liegt faul in der Nachmittagssonne. Umringt von windschiefen Dächern und weiß getünchten Mauern trinke ich an einem der wackeligen Tischchen vor dem kleinen Krämerladen Griechischen Mokka.
Keri – der kleine Platz inmitten alter leicht verfallener Häuser liegt faul in der Nachmittagssonne.
Oberhalb der Häuser schweift mein Blick über unzählige Olivenbäume, die rund um das Dorf die Hügel bedecken. Hin und wieder durchbrechen die Rufe zweier spielender Kinder die Ruhe, die über der ganzen Gegend liegt. Ja, hier scheint es noch lebendig zu sein, das Griechenland von einst. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, dass hier die Uhren noch anders gehen. So langsam, wie sie in ganz Griechenland gingen, bevor die Lawine von Millionen Urlaubern über dieses vergessene Land hereinbrach.
Der alte Mann, der in seinem Dorfladen zwischen Bierkästen und Schafskäse-Eimern den Tag verbringt, serviert mir einen neuen Kaffee und fragt woher ich komme. Es ist seltsam. Fast immer, wenn ich „Deutschland” sage, scheint es, als ob Freude über die Gesichter der Menschen huscht. Mögen sie uns wirklich so? Eigentlich hätten doch gerade die Älteren allen Grund mir mit Misstrauen zu begegnen. Woran es auch liegen mag – ich bin froh, dass diese Menschen mich besser behandeln, als unsere Väter manchen von ihnen. Zum Abschied gibt er mir noch einen Tipp: „Fahren Sie mal die Straße dort zwischen den Häusern hinein, immer geradeaus und wenn sie sich gabelt links. Der Weg wird sich lohnen!”
Das Auto passt kaum zwischen die engen Hauswände hindurch.
Das Auto passt kaum zwischen die engen Hauswände hindurch und als nach langer Fahrt endlich die Gabelung kommt an der es nach links geht, glaube ich fast ganz steckenzubleiben. Schließlich schaffe ich es doch und aus der ohnehin schmalen Straße ist ein löcheriger Lehmpfad geworden. In einer von Feldern umgebenen Talmulde schlängele ich mich langsam immer weiter bergauf. Wo hat mich der alte Mann bloß hingeschickt? Ich bin gespannt darauf was mich erwartet.
Der Weg scheint endlos und mein Auto schnauft, als ich auf der holprigen Piste immer wieder einen nächsten Hügel ansteuere. Jetzt öffnet sich der Weg zu einer breiten ebenen Fläche und ich weiß: Ich bin am Ziel! Bis zur letzten Sekunde verborgen, breitet sich plötzlich bis zum Horizont ein blaues Meerespanorama vor mir aus. Ich stehe auf einem großen Bergplateau das sich hoch über dem Wasser erhebt. An beiden Seiten fallen zerklüftete Felsen steil ins Meer und bilden dort, wo sie mit den Wellen zusammentreffen, ausgewaschene Höhlen und bizarre Bögen.
Bis zur letzten Sekunde verborgen, breitet sich jetzt ein kilometerweites blaues Meerespanorama vor mir aus.
Lange sitze ich am Rand der Klippe, nehme den Geruch des Windes und die Schönheit der Aussicht in mich auf und bedanke mich bei meinem Orakel von Delphi, das mich hierher führte. Aber so schön es hier oben und im Dorf Keri auch ist, ich bleibe doch ein Stadtmensch und beschließe in die Inselhaupstadt zurückzukehren. Im wunderschönen Marmorfassaden-Hotel mit dem klangvollen italienischen Namen „Strada Marina” ist noch ein Zimmer frei. Nach einem kurzen Ausflug in das alte, geruhsame Griechenland, geht der fünfte Tag meiner Reise wieder an einer lebhaften Hafenpromenade zu Ende ■