Sonntag 15. Juli 1990
Beim Frühstück muss ich mir die Frage stellen, vor der ich mich gerne noch ein wenig gedrückt hätte: Soll ich heute die Insel verlassen oder noch bleiben und riskieren dabei herauszufinden, dass ich in Zukunft lieber hierher komme, als in das kleine Dorf im Norden? Je länger ich über letzteres nachdenke, desto schwerer fällt mir die Antwort. Da bleibt nur eine Lösung: Flucht!
Im eilig aufgesuchten Fährbüro erfahre ich, dass alle Schiffe restlos ausgebucht sind. Doch dann findet der Angestellte hinter der wuchtigen Theke doch noch einen Platz auf der letzten Fähre, spät am Abend. Immerhin bleibt mir so noch dieser ganze Tag.
Also wieder hoch in die Berge. Mit meinem Geländewagen lasse ich diesmal auch die kleinsten Seitenwege nicht aus. Wie ein kleiner Junge der Cowboy und Indianer spielt, will ich diesmal alles erforschen, will diese Insel noch einmal richtig spüren. Aus holprigen Wegen werden enge, steile Eselspfade. Ist es Gottvertrauen oder Leichtsinn, was mich trotzdem immer weiterfahren lässt? Hinter einer neuen Biegung stehe ich plötzlich einer Stelle gegenüber, deren Steilheit und Enge mich vor die Frage stellt, ob hier weiterzufahren noch Mut ist oder schon Dummheit wäre.
Der Weg ist kaum noch so breit wie das Auto. Während auf der rechten Seite der Außenspiegel schon an eine Böschung schrappt die 100 Meter und mehr in die Höhe ragt, schaue ich aus dem Fenster an meiner linken Seite steil in einen mindestens ebenso tiefen Abgrund. Jetzt reicht es! Aber was tun? Aussteigen geht nicht mehr, und an Wenden ist schon gar nicht zu denken. Mir bleibt nur ein einziger Ausweg: Mich im Rückwärtsgang, Zentimeter für Zentimeter, langsam wieder zurückzutasten. Dabei jeder Wegbiegung genau folgen um nicht mit einem der Räder in den Abgrund zu geraten. Es scheint mir endlos lange zu dauern, bis ich eine Stelle erreiche an der die Piste wieder so breit ist, dass ich keine Angst mehr zu haben brauche doch noch abzustürzen.
Beim zweiten Besuch treffe ich auf dem Plateau hinter Keri eine Ziegenherde an.
Mein erstes Erlebnis auf dieser Insel soll ihren Besuch auch beschließen. Zum zweiten Mal fahre ich hinauf in das Bergdorf Keri und weiter zu dem Plateau hoch über dem Meer. Diesmal weidet auf dem relativ steilen Abhang zum Meer eine Ziegenherde. Als der alte Hirte mich sieht kommt er langsam näher und setzt sich zu mir. Wieder beginnt das Gespräch, das ich schon kenne: „Woher kommst du?” „Aus Deutschland!” „Ah, deutsche Menschen sind gute Menschen, starke Menschen!” Ich fange auch mit ihm keine ernsthafte Diskussion an. Bei dem wenigen Griechisch das ich spreche, scheint es mir angebracht auf das Wetter abzulenken und nach ein paar einfachen Worten über mein „schönes Auto”, wie er meint, und über seine Ziegen ist es auch schon Zeit aufzubrechen.
Viel früher als zum Einschiffen nötig bin ich wieder am Hafen und warte, auf einem der großen Poller sitzend, auf die Zeit zur Abfahrt. Vier Rucksackmenschen kommen geradewegs auf mich zu mit der Frage: „Do you speak english?” Ihr Akzent kommt mir bekannt vor und die Antwort auf meine Gegenfrage: „Where do you come from?”, bestätigt die Ahnung, dass es Deutsche sind. Wo denn der Busbahnhof sei und wie man an den Badestrand von Laganas komme wollen sie wissen.
Da ich bisher noch keinen Busbahnhof entdeckt habe kann ich nicht helfen, aber dann kommt mir eine Idee. Anstatt hier noch zwei Stunden rumzusitzen kann ich sie ja den kurzen Weg nach Laganas bringen. Schnell steigen sie ein und wir fahren los. Ich frage: „Wart ihr schon mal hier?” und die Antwort ist ein Gelächter, von dem das ganze Auto bebt. Meine Unsicherheit, was diese Reaktion bedeutet, wird von einem der Mitfahrer auf dem Rücksitz beseitigt: „Weißt du”, sagt er, „wir sind aus Berlin, aber von der Ostseite.”
Der Mauerfall ist am Mittelmeer angekommen. Nach kurzer Fahrt setze ich sie an ihrem Zielort ab und wieder zurück im Hafen, öffnet die Fähre pünktlich ihr riesiges Maul. Als ich mit dem Auto darin verschwinde ist mein Abschied von dieser Insel endgültig.
Pünktlich öffnet die Fähre, mit der ich Zakynthos wieder verlasse, ihr riesiges Maul.
Eineinhalb Stunden später spuckt mich der schwimmende Koloss im Dunkel der Nacht wieder auf dem Festland aus. Es ist schon spät und ich entscheide mich in die nächstliegende Stadt zu fahren, falls mir nicht schon vorher ein geeignetes Hotel begegnet.
Pyrgos liegt nur dreißig Kilometer entfernt. Als ich den Ort erreiche ist es fast Mitternacht. Die Straßen liegen wie ausgestorben in der Dunkelheit. Es ist keine Menschenseele zu sehen und nur wenige Lichter erhellen die Nacht. Die erste Durchquerung dieser unheimlich leeren und dunklen Stadt, auf der Suche nach einem Hotel, endet erfolglos. Verzweifelt mache ich kehrt, um mein Glück erneut zu versuchen und sehe schließlich von weitem ein einsames rotes Neonlicht. Hoffnungsvoll fahre ich darauf zu und lese: „Hotel Pantheon”.
Beim Betreten der Hotelhalle beeindruckt mich die Größe des Raumes. Doch auch hier herrscht die gleiche sonderbare Stimmung wie draußen. Alles wirkt leer, morbide und verlassen. Die großzügige und einst sicher elegante Einrichtung stammt aus den 60er Jahren und ist seitdem kaum erneuert worden. Es riecht nach stehengebliebener Zeit. Szenen aus Dracula Filmen kommen mir in den Sinn. Auch der Nachtportier hinter dem viel zu großen Empfangstresen passt in das Bild. Er ist ein altes, durch einen wahrhaftigen Buckel weit nach vorn gekrümmtes Männlein, das Mühe hat mich über die hohe Pultkante schräg von unten anzublicken. Es ist alles wie in einem alten Film und ich wäre nicht erstaunt, wenn jetzt noch Humphrey Bogart durch die Tür käme und sich an die Bar setzte.
Da Bogie heute anscheinend ausbleibt nehme ich seinen Platz auf einem der Barhocker ein. Ohne einen Absacker möchte ich nicht ins Bett. An der Wand entdecke ich die große Auswahl von genau sechs verschiedenen Getränken im verstaubten Regal: Uozo, Metaxa, zwei Sorten Whisky, Gin und Wodka. Ich bestelle ein Bier und denke darüber nach, warum sich bis jetzt außer dem buckligen Nachtportier und mir noch keine Menschenseele hierher verirrt hat. Bin ich in diesem sonderbaren Hotel vielleicht der einzige Gast? ■