Dienstag 17. Juli 1990
Hitze und Lärm machen mir die Nacht zur Hölle. Weder an Schlaf ist zu denken, noch daran, ein Fenster zu öffnen. In endlosen Kolonnen donnern Fernlaster die ganze Nacht hindurch am Hotel vorbei in Richtung Hafen. Nur der kräftige Ventilator bringt etwas Linderung. Doch Lärm lässt sich nicht einfach hinwegwehen, und so bin ich froh, als es Morgen ist. Nach den Strapazen der Nacht will ich nur noch eins: weg von hier! Nichts und niemand kann mich überreden auch nur eine Minute länger zu bleiben. Sämtliche Überreste des antiken Korinth können mir gestohlen bleiben.
Nach wenigen Kilometern führt die Straße über den berühmten Kanal von Korinth.
Endlich bin ich wieder im Auto und flüchte aus dieser Hölle. Nach wenigen Kilometern führt die Straße über den Kanal von Korinth. Ich halte kurz an, um von der Brücke aus auf Schiffe hinabzuschauen, die sich langsam durch den engen Kanal zwängen. Wie Riesenhände umklammern die glatten, tief abfallenden Felswände die zum Greifen nahen Bordwände und lassen ihnen an beiden Seiten, nur eine handbreit Wasser.
Mein Weg führt nun weiter auf Athen zu. Die abnehmende Entfernung zur Hauptstadt fällt mit jedem Kilometer zunehmend ins Auge. Im Saronischen Golf, an dem sich die Straße in sanften Kurven entlangzieht, liegen gleichmäßig geordnet dutzende großer Schiffe vor Anker. Ein gigantischer Parkplatz für Riesentanker. Aus Landschaft wird Zivilisation. Die Hügel sind übersät mit ebenso phantasielos entworfenen, wie planlos dahingebauten Hütten, Garagen und Lagerhallen.
Noch schemenhaft, aber immer deutlicher, erhebt sich vor mir, aus dem Dunst über einem endlosen Häusermeer, die berühmte Akropolis. Ich habe Athen erreicht, diesen Moloch von Stadt, der mit seinen Vororten über vier Millionen Einwohner zählt, und durch Hitzerekorde, Verkehrschaos und politische Skandale in Griechenland immer wieder Schlagzeilen macht. Seit dreitausend Jahren ist Athen das Zentrum der alten Welt. Heute ist aus dem Zentrum der antiken Kultur das Zentrum des modernen Chaos geworden – so ändern sich die Zeiten.
Da ich die Sehenswürdigkeiten der Stadt schon vor Jahren ausgiebig besichtigt hatte, verzichte ich heute darauf, mich in das Verkehrsgewühl der Metropole zu stürzen. Akropolis und Nationalmuseum bleiben rechts liegen, und ich drehe ohne anzuhalten nach Norden ab. Langsam wird es höchste Zeit zu überlegen, ob ich jetzt auf der Autobahn weiter geradeaus fahren will, oder einen Abstecher zur Insel Euböa mache.
Erst das Schild an der Ausfahrt nach Chalkis bringt die Entscheidung. Spontan lenke ich auf die Landstraße hinaus, der Hauptstadt Euböas entgegen. Auf einmal ein Anblick, dem ich zum ersten Mal gegenüberstehe: Verbrannte Wälder säumen den Weg. Ein Anblick, der mich tief betroffen macht. Es brennt – und der Wald kann nicht rennen. Ob Pflanzen wohl Gefühle haben? Ich weiß es nicht. Bäume sterben stumm.
In Chalkis erreiche ich die alte Brücke, die nach Euböa hinüberführt.
Halb fahrend, halb immer noch in Gedanken beim Wald, erreiche ich Chalkis und die Brücke, die hinüber auf die Insel führt. Wer kennt bei uns schon diesen Ort? Wer weiß schon, dass die Buchstaben unseres Alphabetes vor langer Zeit aus der Schrift von Chalkis entstanden? Auch der große Philosoph Aristoteles kommt mir in den Sinn. Wenn auch unabsichtlich, so wandele ich doch auf seinen Spuren. Am Beginn dieser Reise fuhr ich durch seinen Geburtsort, und dies ist der Platz an dem er starb.
Kaum liegt Chalkis hinter mir, umgibt mich wieder herrlicher Wald. Hier hat noch kein Feuer gewütet. Die sanften grünen Hügel erinnern mich an das Bergische Land. Dies ist eine der schönsten Landschaften, die ich auf dieser Reise durchquert habe.
Die sanften grünen Hügel Euböas erinnern mich an deutsche Mittelgebirge.
Im äußersten Norden Euböas verlässt die Straße die grüne Umarmung der Wälder und strebt erneut dem Meer entgegen. Von hier bringt mich die Fähre wieder ans nahe Festland. Mein Tagesziel ist Kalambaka, Ausgangspunkt zum Besuch der Meteora Klöster. Ein Brite, den ich unterwegs traf schwärmte, sie seien „very impressive”. Eindrucksvolle Klöster? Da ich schonmal hier bin, kann ich mir das ja mal anschauen.
Da die Strecke noch lang ist und der Rest des Tages nur kurz, gebe ich Vollgas. Zum zweiten Mal auf dieser Reise durchfahre ich Lamía. Nördlich der Stadt schlängele ich mich über den Furka-Pass und erreiche schließlich die Thessalische Ebene. Die weite, flache Landschaft ist ein ungewohnter Anblick im sonst bergigen Griechenland. Schnurgerade führt mich die Straße kilometerweit durch schier endlos vorbeiziehende Kornfelder. Hier wächst das Brot der Menschen in Athen und Thessaloniki.
Wie ein steinerner Märchenwald erheben sich oberhalb von Kalambaka bizzarre Felsenfinger.
Es geht gut voran und schnell habe ich Trikalla durchquert. Hier war Äskulap zu Hause, der Gott der Heilkunde. Kalambaka kommt jetzt immer näher. Am Horizont erkenne ich schon die bizarren Felsenfinger, die sich oberhalb des Ortes wie ein steinerner Märchenwald aus der flachen Ebene erheben.
Nach der Höllennacht in Korinth und den Anstrengungen der langen Fahrt werde ich mir heute auf jeden Fall einen Wunsch erfüllen: es kommt nur ein Hotel mit Komfort und Klimaanlage infrage. Mal schauen, was ich da finde ■