Donnerstag 19. Juli 1990
Wohin soll ich heute fahren? Beim Frühstück denke ich über verschiedene Ziele im Norden und Nordwesten Griechenlands nach. Auch dort oben soll es schöne Ecken geben. Doch ich bin müde von den vielen Kilometern und den vielen Eindrücken, die hinter mir liegen. Was kann nach dieser einzigartigen und beeindruckenden Landschaft der Meteora Klöster im Norden noch auf mich warten, das eine Weiterfahrt lohnt? Ich denke: „Es ist genug!” Heute werde ich die Reise beenden.
Ist es wieder mal einer dieser merkwürdigen Zufälle, die sich wie eine Kette durch mein ganzes Leben ziehen? Dass sich der Kreis meiner Reise ausgerechnet an diesem Ort schließt? Im Schatten der Klöster des Heiligen Berg Athos fuhr ich los und zu Füßen der Meteora Klöster bin ich nun angekommen. Anfang und Ende sind eins. Die schwarzen Kutten der Mönche lassen mich nicht los. Zum letzten Mal verstaue ich die Reisetasche im Kofferraum und werfe einen kurzen Blick auf die Landkarte. Über die schnurgeraden Straßen der Ebene ist Lárissa, die Hauptstadt Thessaliens, nach neunzig Kilometern schnell erreicht. Bei einem kurzen Kaffeestopp im Zentrum entdecke ich, dass dies eine richtige Großstadt ist. Vom exklusiven Juwelier bis zum noblen Restaurant fehlt es hier wirklich an nichts.
Als ich endlich auf der Autobahn nach Thessaloniki bin kommt mir aus der Ferne langsam wieder der sagenumwobene Olymp entgegen, den ich schon auf dem Hinweg im Rückspiegel schwinden sah. Vielleicht sollte ich diesmal die Gelegenheit nutzen und ihm einen Besuch abstatten. Der Tag ist noch jung und wer weiß, ob ich jemals in diese Gegend wiederkehre. Wäre für eine Reise, die mich schon zu Apollons Heiligtum nach Delphi führte, ein Besuch bei Göttervater Zeus persönlich nicht der krönende Abschluss? Kurzentschlossen verlasse ich die Autobahn und nehme die Straße nach Litochoron. Von hier windet sich der Weg in Richtung Gipfel. Die anfangs noch gute Asphaltstrecke verwandelt sich kurz nach einer Wachstation in eine nur schlecht planierte Schotterpiste. Für mein Auto, mit seinen wuchtigen Rädern, kein Problem, doch für die vielen anderen Besucher, in ihren einfachen Vehikeln, eine echte Schütteltort(o)ur.
Je näher ich dem Gipfel des Olymp komme, desto mehr wandelt sich die mediterrane Landschaft zum nebligen Bergwald.
Immer weiter schraubt sich die Rüttelpiste bergauf. Ihr schlechter Zustand bremst auch mich fast auf Schritttempo ab. Der Wald wird immer dichter und je weiter ich fahre, desto mehr wird die Umgebung zu einer unwirtlichen Bergregion voller mystischer Nebel. Im engen Taleinschnitt neben der Straße fließt ein Wildbach an dem sich der Fußweg zum Gipfel entlangschlängelt. Wer sich für ihn entscheidet erlebt die Magie dieser Landschaft sicherlich viel intensiver als ich, durch das Fenster meines ratternden Autos. Trotzdem kommt auch zu mir das Gefühl durch plötzlich in einer ganz anderen Welt zu sein. Nichts von alledem, was mich jetzt umgibt, erinnert noch an das warme sonnendurchflutete Hellas, das nur wenige Kilometer hinter mir liegt. Es ist, als habe ich irgendwo die unsichtbare Grenze in einen anderen Raum überschritten. Vielleicht hatten die Alten doch Recht und es gibt ihn wirklich – den Olymp der antiken Götter.
Nach einer schier endlos scheinenden Zahl von Kurven, vor denen ich mir jedes Mal die Frage stelle: „Wie weit ist es denn noch...”, bin ich endlich am Ende der Straße. Wer hier weiter will muss zu Fuß dem Gipfel entgegengehen. Auf der Schwelle zum Reich der Götter ist für mich hier Endstation. Göttervater Zeus, sollte er immer noch auf dem Gipfel residieren, wird auf meinen Besuch verzichten müssen. Trotzdem bin ich froh die Mühen der holprigen Strecke auf mich genommen zu haben. Von weitem hatte ich nur einen Berg gesehen und jetzt hat sich wieder eine neue wunderbare und beeindruckende Landschaft für mich geöffnet.
Der Kreis meiner Reise, die vor zehn Tagen am Heiligen Berg Athos begann, hat sich nun am Sitz der alten Götter vollendet. Dabei bin ich Ikarus begegnet, habe das Orakel von Delphi befragt, war auf der Glücklichen Insel und sah die im Himmel hängenden Klöster. Und jetzt stehe ich sogar vor der Haustür von Zeus – ein würdiger Abschluss der Reise. Noch ein kräftiger Schluck aus dem Wildbach neben der Straße, dann geht mein Weg wieder hinunter, in die Welt der Menschen.
Vor mir liegen jetzt die letzten drei Stunden der Fahrt. Thessaloniki fliegt erneut ohne Stopp vorüber und bald umgeben mich wieder die bewaldeten Höhen der Chalkidiki. Auch auf dem Rückweg versäume ich im Örtchen Arnéa nicht den Schluck aus der Quelle im Baum.
Und endlich: Im goldenen Licht der untergehenden Sonne erhebt sich die vertraute Silhouette des Heiligen Berg Athos und zu seinen Füßen, Ouranopolis – das Dorf am Ende der Welt ■